Auf den ersten Blick liest sich das Zahlenwerk von thyssenkrupp nucera für das Geschäftsjahr 2024/2025 beruhigend: Aus einem operativen Minus von 14 Mio. Euro ist ein EBIT von 2 Mio. Euro geworden. Der Umsatz blieb mit 845 Mio. Euro nahezu stabil, das Ergebnis nach Steuern lag bei rund 5 Mio. Euro, das Ergebnis je Aktie bei 0,04 Euro. Besonders bemerkenswert: Der Free Cash Flow drehte von minus 78 Mio. Euro im Vorjahr auf plus 11 Mio. Euro – ein deutliches Signal, dass das Unternehmen seine Mittelabflüsse besser im Griff hat.
Doch hinter der soliden Oberfläche steckt ein Thema, das Wasserstoff-Anleger hellhörig machen dürfte: Der Auftragseingang ist von 636 Mio. auf 348 Mio. Euro eingebrochen, der Auftragsbestand hat sich nahezu halbiert. Für einen Projekt- und Anlagenbauer ist das mehr als nur ein Schönheitsfehler – es ist ein Warnsignal, dass die große Wasserstoffwelle an den Kapitalmärkten deutlich länger auf sich warten lassen könnte als erhofft.
CEO Dr. Werner Ponikwar versucht, den Spagat zu erklären: Man habe sich „trotz herausfordernder Rahmenbedingungen solide entwickelt“, die Strategie konsequent vorangetrieben, gleichzeitig in innovative Lösungen für Wasserstoff- und Chlor-Alkali-Märkte investiert und die Kostenstruktur verbessert. Die Botschaft: operativ diszipliniert, strategisch geduldig – aber vom Rückenwind des Marktes derzeit weit entfernt.
Chlor-Alkali als Stabilitätsanker
Während der Wasserstoff-Hype abkühlt, zeigt das klassische Chlor-Alkali-Geschäft, wie ein reifer Technologiebereich aussehen kann. Der Umsatz des Segments ist um 14 Prozent auf 386 Mio. Euro gestiegen, das EBIT liegt mit 58 Mio. Euro nur leicht unter dem Vorjahreswert – damals getrieben von Einmaleffekten in der Bruttomarge.
Der eigentliche Star in diesem Bereich ist das wachsende Servicegeschäft. Der Auftragseingang im CA-Segment ist auf 322 Mio. Euro gestiegen, der Serviceanteil kletterte auf 241 Mio. Euro. Das Neubaugeschäft blieb mit knapp 80 Mio. Euro stabil. Mitteleuropa, der Nahe Osten und die USA fungieren als Kernmärkte – Regionen, in denen an großen Chlor-Alkali-Anlagen nicht vorbeizukommen ist und in denen langfristige Kundenbeziehungen zählen.
Hier liegt die stille Stärke von thyssenkrupp nucera: Ein technologisch starkes, margenstarkes Stammgeschäft, das nicht täglich in den Schlagzeilen steht, aber die Bilanz stabilisiert. Während gH2 schwankt, liefert CA – ein Muster, das sich im vorliegenden Zahlenwerk klar wiederfindet.
Grüner Wasserstoff: Solide Abwicklung, magerer Zufluss
Ganz anders das Bild im Segment Grüner Wasserstoff. Zwar erzielt nucera hier mit 459 Mio. Euro immer noch mehr Umsatz als im Chlor-Alkali-Bereich, doch die Richtung stimmt nicht: Im Vorjahr waren es noch 524 Mio. Euro. Verantwortlich sind vor allem zwei Großprojekte: Das Stegra-Projekt in Schweden, das maßgeblich zum Umsatz beitrug, und das prominente NEOM-Projekt, das aufgrund des hohen Fertigstellungsgrades weniger Umsatz beisteuerte als im Vorjahr.
Beim Ergebnis zeigt sich eine Verbesserung: Das EBIT im gH2-Segment hat sich von minus 76 Mio. Euro auf minus 56 Mio. Euro verbessert. Projektmix, professionalisierte Projektabwicklung und strengeres Kostenmanagement sorgen dafür, dass Verluste zumindest eingedämmt werden.
Doch die zentrale Schwachstelle ist nicht die aktuelle Profitabilität, sondern der Blick nach vorne: Der Auftragsbestand ist von 706 Mio. auf 259 Mio. Euro abgestürzt, der Auftragseingang brach von 356 Mio. auf lediglich 26 Mio. Euro ein. Zwar gelang ein Auftrag für eine FEED-Studie zu einem 600-Megawatt-Projekt in der europäischen Schwerindustrie, doch solche Vorstudien sind eher Vorboten möglicher Projekte als Umsatztreiber der nächsten Jahre.
Das Fazit: thyssenkrupp nucera beweist, dass man Großprojekte sauber abwickeln kann – aber der Nachschub an neuen gH2-Aufträgen bleibt zunächst aus.
Technologieoffensive: Feinschliff und Portfolioerweiterung
Während der Markt für grünen Wasserstoff stockt, dreht das Unternehmen weiter an seiner Technologie-Roadmap. Die F&E-Ausgaben sind leicht auf 38 Mio. Euro gestiegen – ein kleiner, aber symbolischer Hinweis, dass an den Zukunftsfeldern nicht gespart wird.
Im Chlor-Alkali-Geschäft sorgen neue Generationen der BM-Technologie mit Bipolarmembran sowie die verbesserte BiTAC®-Technologie für effizientere Elektrolyseprozesse. Geringerer Energieverbrauch und niedrigere Membranbelastung sind in einem energieintensiven Umfeld harte wirtschaftliche Argumente – vor allem, wenn Kunden ihre eigenen Klimaziele erreichen wollen und jede Kilowattstunde zählt.
Im Segment Grüner Wasserstoff erweitert der Zukauf der modularen Hochdruckelektrolyse-Lösung von Green Hydrogen Systems das Portfolio in eine Richtung, die für industrielle Anwendungen spannend bleibt: Wasserstoffproduktion bei bis zu 35 bar Betriebsdruck. Wo verdichteter Wasserstoff benötigt wird, kann eine druckbasierte Lösung in der Gesamtwirtschaftlichkeit eines Projekts den Unterschied machen – vorausgesetzt, diese Projekte kommen überhaupt in Fahrt.
Ausblick: Übergangsjahr mit Ansage
Der Blick auf 2025/2026 ist nüchtern – und das ist fast schon erfrischend ehrlich. Auf Konzernebene erwartet thyssenkrupp nucera einen Auftragseingang zwischen 350 und 900 Mio. Euro. Diese ungewöhnlich breite Spanne zeigt, wie schwer sich das Management mit belastbaren Prognosen im aktuellen Marktumfeld tut. Beim Umsatz werden nur noch 500 bis 600 Mio. Euro in Aussicht gestellt – ein deutlicher Rückgang gegenüber den 845 Mio. Euro des abgelaufenen Jahres. Das EBIT soll zwischen minus 30 und 0 Mio. Euro liegen. Die Rückkehr in die Verlustzone ist also ausdrücklich einkalkuliert.
Im Chlor-Alkali-Segment bleibt die Lage vergleichsweise stabil: 320 bis 400 Mio. Euro Umsatz, 40 bis 65 Mio. Euro EBIT – getragen vom bestehenden Auftragsbestand. Im gH2-Segment dagegen wird der Realität ins Auge gesehen: Der Umsatz dürfte auf 150 bis 220 Mio. Euro einbrechen, während das EBIT zwischen minus 80 und minus 55 Mio. Euro erwartet wird. Neue Großaufträge werden, so die klare Botschaft, erst in den Folgejahren spürbar zu Umsatz und Ergebnissen beitragen.
thyssenkrupp nucera versucht, die Lücke mit Kosteneffizienzprogrammen, besserem Projektmix und veränderter Ressourcenallokation zu schließen. Vollständig schließen lässt sie sich nicht. 2025/2026 wird ein Jahr, in dem die Story „Technologieführer für Wasserstoff“ an den Kapitalmärkten eher durch Durchhaltevermögen als durch neue Rekorde bestehen muss.
Was bleibt für Anleger?
Für Investoren zeichnet sich eine Zwischensituation ab: Ein Unternehmen, das operativ Fortschritte macht, im Kerngeschäft Chlor-Alkali solide verdient, technologisch am Ball bleibt – aber in seinem Zukunftssegment Grüner Wasserstoff vorerst in einer Warteschleife hängt.
Wer die thyssenkrupp-nucera-Aktie betrachtet, sollte genau diesen Spannungsbogen im Kopf behalten: Hier geht es nicht um den schnellen Hype, sondern um die Frage, ob das Unternehmen die derzeitige Flaute im Projektgeschäft durchstehen und bereit sein wird, wenn die politische und wirtschaftliche Realität beim grünen Wasserstoff wieder Fahrt aufnimmt.
Bis dahin bleibt nucera ein Titel für Anleger mit langem Atem – und einer gewissen Bereitschaft, ein Übergangsjahr mit Ansage auszuhalten.













