Für die Gerresheimer AG, Spezialist für Verpackungen und Systeme für Pharma und Medizintechnik, wird der Konzernabschluss 2024 zum nachträglichen Stresstest. Der Vorstand hat beschlossen, sämtliche im Abschluss 2024 erfassten Umsätze aus Bill-and-Hold-Vereinbarungen in Höhe von rund 28 Mio. Euro zu korrigieren. Auslöser war eine von der BaFin eingeleitete Prüfung, an die sich eine interne Untersuchung durch eine unabhängige Kanzlei anschloss.
Das Ergebnis ist eindeutig: Die Umsatzerfassung aus diesen Vereinbarungen entsprach „durchgängig nicht den Anforderungen der IFRS“ und wurde systematisch zu früh vorgenommen. Für ein Unternehmen, das sich gerne als verlässlicher Partner regulierter Branchen präsentiert, ist das eine unangenehme Rollenverschiebung – von der Seite derjenigen, die mit Regulierung leben, hin zu derjenigen, die von der Aufsicht korrigiert wird.
Was hinter den Bill-and-Hold-Umsätzen steckt
Bill-and-Hold-Vereinbarungen sind im Kern nichts Ungewöhnliches: Der Hersteller produziert die Ware, stellt sie in Rechnung, der Kunde akzeptiert Eigentumsübergang und Risiken – die Ware bleibt aber zunächst beim Hersteller eingelagert und wird erst später ausgeliefert. Unter engen IFRS-Bedingungen können solche Geschäfte bereits als Umsatz verbucht werden.
Genau hier lag bei Gerresheimer das Problem. Laut externer Untersuchung wurden die Kriterien nicht sauber erfüllt, die Umsätze wurden zu früh erfasst und damit Abschlüsse „geschönt“, auch wenn die Größenordnung im Konzernmaßstab überschaubar bleibt.
Die Konsequenz: Gerresheimer zieht den Stecker. Im Konzernabschluss 2025 sollen keine Umsätze aus neuen Bill-and-Hold-Geschäften mehr auftauchen, und auch künftig will der Konzern auf diese Praxis verzichten. Das ist mehr als ein technischer Fußnotenwechsel – es ist ein klares Signal, dass man nach der BaFin-Intervention keinen Graubereich mehr riskieren will.
Zahlenkosmetik mit Nachspiel: Wie stark die Kennzahlen betroffen sind
Rechnerisch sind die Effekte auf den 2024er-Abschluss überschaubar, aber spürbar. Die bislang berichteten Umsatzerlöse von 2,036 Mrd. Euro werden sich nach heutigem Stand um rund 18 Mio. Euro reduzieren – also um etwa 1 %. Hintergrund:
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Die 28 Mio. Euro zu früh erfassten Bill-and-Hold-Umsätze aus 2024 werden herausgenommen und ins Geschäftsjahr 2025 verschoben.
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Gleichzeitig werden rund 10 Mio. Euro aus 2023 nach 2024 „nachgeholt“, weil sie damals ebenfalls falsch eingeordnet wurden.
Ähnliches Bild beim Ergebnis: Das Adjusted EBITDA von 419,4 Mio. Euro wird voraussichtlich um rund 5 Mio. Euro oder etwa 1 % sinken, das Adjusted EPS von 4,67 Euro um rund 0,10 Euro, also etwa 2 %. In absoluten Zahlen kein Bilanz-GAU – aber genug, um Fragen nach der Qualität der Ergebnisberichte aufzuwerfen.
Zusätzlich müssen Anleger damit rechnen, dass auch unterjährige 2025er-Zahlen nachträglich angepasst werden. Im Halbjahresbericht 2025 waren nach aktueller Planung etwa 4 Mio. Euro Bill-and-Hold-Umsätze enthalten, die in den Veröffentlichungen 2026 in den Vorjahresvergleichen korrigiert werden sollen.
Governance-Signal: „Fehler eingestehen und aufräumen“
Positiv ist, dass Gerresheimer den Befund nicht kleinredet. Der Konzern spricht ausdrücklich von einem Rechnungslegungsfehler, verweist auf die unabhängige Untersuchung und kündigt an, im Rahmen der BaFin-Prüfung „vollumfänglich zu kooperieren“. Die Korrektur erfolgt transparent im Konzernabschluss 2025 über die Anpassung der Vorjahreszahlen – kein Versuch, das Thema im Kleingedruckten verschwinden zu lassen.
Für Investoren ist das ein zweischneidiges Bild:
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Die finanzielle Dimension wirkt begrenzt – rund 1 % beim Umsatz, 1–2 % bei den Ergebnissen.
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Die Signalwirkung für Bilanzqualität, internes Kontrollsystem und Tone-from-the-top ist deutlich größer.
Im MDAX-Umfeld, in dem Gerresheimer als solider Qualitätswert gelten will, ist schon der Eindruck einer systematischen, wenn auch relativ kleinen Vorverlagerung von Umsätzen heikel. Es ist genau der Stoff, der Vertrauen mittel- bis langfristig kosten kann, wenn das Unternehmen ihn nicht konsequent aufarbeitet.
Was Anleger jetzt im Blick behalten sollten
Kurzfristig dürfte der Markt die Nachricht vor allem unter dem Aspekt „Bilanzbereinigung“ einpreisen: Der Umsatz- und Ergebniseffekt ist klar quantifiziert, die Praxis wird abgestellt, die BaFin wird eingebunden. Deutlich spannender – und kursrelevanter – wird die Frage, ob Gerresheimer im kommenden Jahr in der Lage ist,
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wachstumseitig zu liefern, ohne auf bilanzielle Sondereffekte zurückzugreifen, und
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das Vertrauen in Governance und Transparenz wieder zu stärken.
Im Pharma- und Medizintechnik-Umfeld, in dem langfristige Kundenbeziehungen, Regulatorik und Planbarkeit eine zentrale Rolle spielen, sind „saubere Bücher“ kein Luxus, sondern Pflicht. Dass Gerresheimer die Bill-and-Hold-Praxis nun komplett aufgibt, ist ein richtiger Schritt – die Bewährungsprobe folgt in den kommenden Quartalen, wenn Anleger sehen wollen, wie robust das operative Geschäft ohne bilanzielle Vorgriffe tatsächlich läuft.













